Charlotte ging es gesundheitlich nicht besonders gut, deshalb fuhr sie schon früh nach Hause, bestand aber darauf, dass ich alleine zum Soupeé bleiben sollte. Seit meiner Ankunft in Weimar hatte sie sich recht eigenartig verhalten und war nach dem ersten Überschwang der Gefühle, die sie fast manisch belasteten, krank und empfindungslos in sich zusammengesunken. Ich war besorgt und konnte mit dieser Situation nicht gut umgehen, sah aber nun, wie sich ihr Zustand langsam besserte und sie wieder in die Normalität zurückfand.
Nach dem Essen fuhr ich mit Wieland zurück nach Weimar, und es trafen sich noch einige Leute zu einer Runde Punsch, mit denen wir den Abend ausklingen ließen.
Nun freute ich mich auf die junge Herzogin, von der ich sehr viel Positives gehört hatte. Doch sie wurde erst in vierzehn Tagen zurückerwartet, und ich erfuhr, dass der Herzog erst im September zurück nach Weimar kommen würde. Das war eine sehr unerfreuliche Nachricht für mich, denn ich hatte auf seine Unterstützung gehofft.
Tags darauf traf ich mich wie verabredet mit Wieland, um von ihm in den Club eingeführt zu werden. Er fühlte sich nicht wohl, weil ihm das Wetter zu schaffen machte. Es war drückend heiß und sehr schwül, und er wirkte müde und abgeschlagen.
Wir sprachen über Verschiedenes, und es überkam ihn eine Welle von Selbstmitleid, als er von jungen Leuten berichtete, die ihn nur für einen Professor gehalten hatten, der ein Journal herausgeben würde.
„Bei lebendigem Leibe fange ich an vergessen zu werden, und nach meinem Tode wird es ganz so sein“, klagte er wehmütig. Ich versuchte, ihn zu beruhigen, was mir jedoch nicht gelang. Um vom Thema abzulenken, bat er mich, ich solle ihm meine Lebensgeschichte erzählen. Das tat ich dann auch, bis zur Entstehung der Räuber. Wir wurden unterbrochen, weil er sich für den Club frisieren ließ, und ich konnte mich ungestört in seiner Bibliothek umsehen. Sie war derart groß und vielseitig, dass ich Mühe hatte, sie zu erfassen.
Anschließend machten wir uns auf den Weg zum Club, und da das Wetter ganz vortrefflich war, schlug Wieland einen Spaziergang durch die Parkanlagen am rechten Ilmufer vor. Hier erzählte er mir seine Lebensgeschichte, was ich als großen Vertrauensbeweis empfand. Er war wohl selbst erstaunt über seine Offenheit mir gegenüber und meinte, dass dies eigentlich nicht in Ordnung wäre, weil er alt und ich jung sei. Doch wolle er mich im Geiste zehn Jahre älter und sich selbst zehn Jahre jünger machen, um dies wieder auszugleichen.
Zum Abendessen im Club war ich sein Gast, und wir trafen auch hier zahlreiche Menschen, die mir Wieland vorstellte. Charlotte hatte mich darauf aufmerksam gemacht, dass ich aufgrund meiner Funktion als Weimarischer Rat, zu Höflichkeitsbesuchen beim hiesigen Adel und den ersten bürgerlichen Häusern gegenüber verpflichtet sei.
Dies tat ich recht widerwillig, konnte mich jedoch nicht davon frei machen.
In dieser Stadt hatte ich oftmals Mühe, mir meines Selbstwertes bewusst zu werden, denn ich spürte überall den mächtigen Einfluss des allumfassenden Goethe-Geistes, obwohl dieser im Moment gar nicht anwesend war. Überall wurde ich freundlich empfangen, doch ich spürte unter dem Mantel der Distanz wenig Wärme und Herzlichkeit, wie ich es aus meiner Heimat kannte.
Die Leute ließen mich fühlen, dass ich in ihren Reihen ein Fremder war, und ich vermisste meine Freunde in Dresden umso mehr. Täglich schrieb ich an Körner und berichtete ihm meine Erlebnisse und Eindrücke, wenn auch in Kürze, wegen der knapp bemessenen Zeit, die ich hier hatte. Doch die Zeit war wirklich das einzige Kapital, das mir blieb. Über ein anderes konnte ich nicht verfügen. Und ich wollte sie nutzen! Das war meine einzige Chance weiterzukommen und eine gut bezahlte Tätigkeit zu erhalten. Meine Taschen waren wie immer leer. Mit dem wenigen Geld, das ich hatte, musste Kost und Logis bezahlt werden, und aufgrund meines jetzigen Standes war ich genötigt, einen Bediensteten einzustellen.
Gerade jetzt erinnerte mich meine alte Freundin Henriette von Wolzogen an die Bezahlung meiner Schuld in Meiningen, und ich musste sie wieder einmal vertrösten, denn ich konnte das Geld nicht zurückzahlen.
Ich teilte ihr mit, dass ich sie Ende September besuchen würde, und dass ich mich sehr darauf freue, sie und Bauerbach wiederzusehen. Zu meiner Entschuldigung gab ich an, dass ich vergeblich versucht hätte, meinen Don Carlos in Berlin und Hannover anzubieten.
Wieder einmal musste ich auf das Verständnis und die Nachsicht Henriette von Wolzogens hoffen, deren Geduld ich schon so lange strapaziert hatte. Tiefe Scham bohrte in mir, als ich sie auf einen späteren Rückzahlungstermin vertrösten musste. Ich überlegte, ob es vielleicht möglich wäre, das Geld in einem halben Jahr von einem Freund zu leihen.
Zurzeit jedenfalls lebte ich von der Hand in den Mund. Es gab einen Moment, in dem mir alles Geld, bis auf zwei Groschen Porto, ausgegangen war, ohne dass ich wusste, woher ich neues bekommen könnte. In dieser extremen Notsituation wurde mir völlig unerwartet eine längst vergessene Schuld für meine Zeitschrift ausgezahlt.
So fristete ich mein Dasein, existierte von einem Tag auf den nächsten, in der Hoffnung, dass sich langfristig etwas ändern würde. Ich war völlig auf mich alleine gestellt und lebte sehr zurückgezogen, fern von allen gesellschaftlichen Vergnügungen. Nur in den Abendstunden liebte ich es durch den Park zu spazieren, und ich genoss dort die Natur auf den weitläufig angelegten Wegen und die stille Einsamkeit des Ortes.
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