Lotte erholte sich nur langsam, befand sich aber den Umständen entsprechend wohl und die kleine, neue Mitbewohnerin unseres Hauses versprach eine ruhige, fromme Seele zu sein.
Die ersten Tage waren gut verlaufen, doch Lotte war immer noch schwach und ihr Zustand verschlechterte sich zusehends.
Am 23. September schickte ich einen Boten zu Professor Stark, weil mich ihre zunehmende Teilnahmslosigkeit beunruhigte, die zwischen übermäßiger Besorgnis und wildesten Phantasien wechselte.
Mir wurde erzählt, dass sie die ganze Nacht wie in einem Delirium gesprochen habe, und ihr Puls war teilweise sehr schwach und schnell gewesen. Außerdem klagte sie über starke Ohrgeräusche, die sich wie ein Klingen und Zischen äußerten. Meine Schwiegermutter hatte ebenfalls von einem auf den anderen Tag eine Veränderung bei Lotte bemerkt, was mich das Schlimmste befürchten ließ.
Drei Tage lang phantasierte sie nun bereits unter hohem Fieber und hatte die ganze Zeit keinen Schlaf gefunden. Obwohl Lotte nicht alleine sein konnte, duldete sie nur meine Anwesenheit und die ihrer Mutter. Wenn sie im Delirium sprach, gingen mir ihre Worte tief ins Herz und ließen mich nicht mehr zur Ruhe kommen. Da ich selbst immer kränklich war, kostete es mich viel Kraft, Tag und Nacht an ihrem Bett zu wachen. In zwölf Tagen wachte ich fünf Nächte lang.
Wie froh war ich, meine Schwiegermutter mit ihrer besonnenen Art um mich zu haben, die mich beruhigte und die Situation meisterte, der ich alleine völlig hilflos ausgesetzt gewesen wäre.
Nach tagelanger Angst um Lottes Leben begann das Nervenfieber langsam zu weichen.
Am 21. Tag der Krankheit war das Fieber fast verschwunden, doch schien das Übel ihren Geist angegriffen zu haben, denn es kam nach wie vor zu Anfällen, die dem Wahnsinn ähnelten. Lottes Leben war zwar nicht mehr in Gefahr, doch fürchtete ich, dass ihr Verstand Schaden genommen haben könnte. Professor Stark beruhigte uns so gut er konnte und tat alles, was ihm möglich war. Anfang November lag Lotte immer noch besinnungslos darnieder und ab und zu schlug sie die Augen auf, scheinbar ohne uns zu erkennen.
Uns ängstigte vor allen Dingen die Stumpfheit ihres Gesichtsausdruckes, ihre völlige Gleichgültigkeit und ihr ständiger Zustand von Geistesabwesenheit.
Ich konnte den quälenden Anblick nicht mehr ertragen, der mich so niederdrückte und versuchte ihm durch einem Ausflug nach Weimar, wenn auch nur für ein paar Stunden, zu entfliehen.
Auch meine Schwiegermutter brauchte dringend einen halben Tag Ruhe, und da Frau Griesbach bereit war, die Wache an Lottes Bett für eine Weile zu übernehmen, konnte uns diese Zeit etwas Ablenkung und Ruhe bringen.
So fuhr ich mit Karl am 6. November nach Weimar, besuchte Goethe für einige Stunden und kehrte noch am selben Tag nach Jena zurück, wo ich die Nachtwache an Lottes Bett übernahm. Karl war für einige Zeit bei Goethe geblieben, weil sich der Sechsjährige wegen des Zustandes seiner Mutter zunehmend ängstigte.
Obwohl es zwischenzeitlich schien, dass Lotte aus ihrer Besinnungslosigkeit erwachen würde, fiel sie sogleich in diesen Zustand zurück, aus der sie auch Professor Stark trotz aller von ihm angewandten Mittel, nicht zu erwecken vermochte.
Endlich, Mitte November, gewannen wir den Eindruck einer allmählichen Besserung, denn Lotte schien wieder Notiz von den sie umgebenden Dingen und sich selbst zu nehmen und Professor Stark hoffte in den nächsten 10 Tagen auf eine gute Veränderung.
Unsere Tochter entwickelte sich gut, denn wir hatten mit dem Stillen vorsorglich eine Amme beauftragt, um so den Schwierigkeiten einer Kuhmilchernährung entgehen zu können. Der Anblick dieses kleinen Wesens war das Einzige, was mich über das Leid meiner Frau hinwegtrösten konnte.
Nach dem ersten Anzeichen der Besserung erfolgte diese gänzlich und erstaunlich schnell, denn am 21. November war es Lotte bereits wieder möglich, einen Brief zu schreiben.
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