Kant und Unsterblichkeit
Immanuel Kant. Zeichnung in Schattenrissmanier von Puttrich. 1799. Quelle: Könnecke 1905
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Gegen Ende des Monats März 1791 fuhr ich gemeinsam mit Lotte und ihrer Schwester nach Rudolstadt. Der Schmerz in meiner Brust war immer noch nicht verschwunden, sondern er durchfuhr mich bei jedem tieferen Atemzug, manchmal begleitet von Atemnot und starken Beklemmungen. Noch verschwieg ich der Familie gegenüber meine Befürchtung, dass ich diese Beschwerden behalten würde, solange ich lebte.
In Rudolstadt wurde ich von Benjamin Gottlob Friedrich Conradi behandelt, der mir einen Diätplan aufstellte. Blut hatte ich bisher keines mehr gespuckt, und ich ließ zweimal Blutegel auf die rechte Brusthälfte setzen, wobei ich sehr viel Blut verlor und wodurch sich die Beschwerden noch verschlimmerten. Ich versuchte ganz nach den Verordnungen meines Arztes zu leben, trank häufig Selterwasser mit Milch und frische Kräutersäfte, bewegte mich sooft es ging an der frischen Luft und ritt auch ein paar Mal wöchentlich aus.
Mitte April schien die Sonne schon manchmal etwas kräftiger, und ich genoss die warmen Strahlen in heiterer Stimmung, mutig genug, alles Kommende hinzunehmen und wenn nötig auch das Schlimmste bis zum bitteren Ende durchzustehen.
Crusius hatte mir noch vor meiner Abreise nach Rudolstadt Druck gemacht, ich möge doch endlich die
Geschichte des Abfalls der Niederlande fortsetzen. Er schien empfindlich getroffen zu sein, weil er annahm, dass ich die Arbeiten für Göschen vorziehen würde und ihn absichtlich warten ließ. Ich hatte Göschen um Vermittlung und Klarstellung gebeten, denn, auch wenn der Kalender nicht erschienen wäre, hätte ich die niederländische Arbeit vorläufig nicht fortgesetzt.
Ich versuchte mich diesem neuen Druck zu entziehen, dachte jedoch darüber nach, wann ich diese Arbeit weiterführen könnte, schon alleine, um Crusius zu beruhigen. Doch erhoffte ich mir aus Sorge um meine Gesundheit für die zweite Hälfte des Sommers eine angenehmere Beschäftigung, außerdem hatte ich die Hoffnung, nach Dresden zu Körner fahren zu können. Doch dazu kam es nicht.
Bereits Ende März hatte ich in Jena die Bekanntschaft mit dem Nürnberger Mediziner Johann Benjamin Erhard gemacht, der mich jetzt, wie angemeldet, in Rudolstadt besuchen kam. Erhard war wie Reinhold ein großer Verehrer Kants.
Er reiste im Anschluss an seinen Aufenthalt in Rudolstadt über Göttingen, Kopenhagen und Memel nach Königsberg, um ihn persönlich kennen zu lernen; später, auf seiner Rückreise, sollte er Körner in Dresden treffen.
Erhard imponierte mir durch sein vielseitiges Wissen, und ich hatte noch nie jemanden kennen gelernt, der die Philosophie Kants von Grund auf kannte und dazu noch eigene Gedanken und ganz neue Betrachtungen entwickeln konnte. Er war von außerordentlicher Belesenheit, und die Natur hatte ihn mit einer enormen Geisteskraft ausgestattet. Für seine relativ jungen 25 Jahre wirkte er sehr charakterfest und geistvoll. In der „Allgemeinen Literatur Zeitung“ war eine anonyme Rezension erschienen, die Reinholds Beitrag über Kants „Kritik der reinen Vernunft“ als Missverständnis kritisierte. Erhard plante daraufhin, der Verteidigung der Reinholdschen Philosophie mit einer weiteren Veröffentlichung entgegenzutreten.
Ende April besuchte mich Göschen einige Tage in Rudolstadt und nach seiner Abreise, am 8. Mai, noch immer entkräftigt von meinem ersten Anfall im Januar, überfiel mich genauso unerwartet ein zweiter, der den ersten in punkto Heftigkeit noch übertraf. Conradi wurde sofort gerufen, und er tat alles nur Mögliche, um meine krampfhaften Erstickungsanfälle zu lindern und die Engbrüstigkeit zu beseitigen.
Ein Aderlass am Fuß wurde notwendig, um mich vor dem Ersticken zu bewahren. Bereits völlig entkräftet, schlief ich einige Stunden und dachte, das Schlimmste sei vorüber, doch dann wiederholte sich der Anfall noch fürchterlicher, als der vorherige.
Es wurde per Eilboten nach Jena geschickt, um Stark zu holen, der in der Nacht vom 10. zum 11. Mai, dem Höhepunkt der Krankheit, nach Rudolstadt kam und am 13. wieder nach Jena zurückreiste.
Auch er tat alles, um mich am Leben zu halten und die Brust- und Leibschmerzen mit Opiaten und krampflösenden Mitteln zu dämpfen. Der Fieberfrost war so stark, dass meine Extremitäten ganz kalt wurden und mein Puls verschwand. Selbst heißes Wasser vermochte meine Hände nicht zu erwärmen, und nur die stärksten Einreibungen konnten die Kälte aus meinen Gliedern treiben.
Mit jedem Augenblick glaubte ich niederzusinken und zu sterben. Ein wenig tröstlich war die Versicherung meiner Ärzte, dass sie keine Störung meiner Lungen feststellen konnten und eine Lungenschwindsucht somit auszuschließen sei, zumal ich keinen blutigen Auswurf mehr hatte.
Dass die Lungenentzündung im Januar zu einer Rippenfelleiterung geführt hatte und diese nun das Zwerchfell durchbrach, wusste ich zum Glück nicht, denn dann hätte ich mich daran erinnert, dass ein solcher Durchbruch normalerweise mit einer Blutvergiftung einhergeht, die fast immer zum Tode führt.
Die dadurch entstandene Bauchfellentzündung sollte mir ein Leben lang mehr oder minder starke Beschwerden bereiten, da auch weitere Entzündungen der Därme zu erwarten waren.
Mein Ringen um Atemluft war begleitet von großer Angst, dieses Leben verlieren zu können, an dem ich so hing. Doch ich wollte lernen, mich dem Schicksal zu unterwerfen und das Unausweichliche ertragen. Lotte war in ihrem Seelenschmerz erstarrt, zu unfassbar war ihr der Gedanke, dass sie mich vielleicht wieder verlieren würde. Niemand wollte sich vorstellen, dass ich dem Irdischen in der Blüte meiner Kraft für immer entzogen werden könnte. Doch was blieb uns anderes übrig, als dem allmächtigen Geiste voll Vertrauen Folge zu leisten!?
Karoline las mir Stellen aus Kants „Kritik der Urteilskraft“ vor, die auf Unsterblichkeit deuteten, und diese Worte gingen wie ein Lichtstrahl des Glaubens in mein Herz.
Wie gerne ließ ich die Gedanken dieses kleinen, unscheinbaren, großen Mannes wie einen tröstenden Balsam in meine Seele fließen! Sie machten mir Mut und ließen mich still werden.
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