Madame de Staël
Neben den Nachrichten um Herders Tod am 18. Dezember 1803 wurde Weimar vom Besuch der berühmten Anne Louise Germaine Baronne de Staël-Holstein überrascht, die mit ihrem Lebensgefährten Benjamin Constant und ihren beiden Kindern die Stadt besuchte. Madame de Staël, deren kritische Passion in Literatur und Kultur über Frankreichs Grenzen hinaus bekannt war, eilte der Ruf einer „Weltfrau“ voraus, auch weil sie aufgrund ihrer zahlreichen Liebhaber, darunter auch Napoleons Außenminister Talleyrand und der Kriegsminister der Revolution Narbonne, für die Kleinstadt Weimar eine Attraktion darstellte. Weil Napoleon ihren literarischen Einfluss als gefährlich empfand, war sie bereits im Jahre 1802 von ihm aus dem Lande vertrieben worden. 
Germaine de Staël, Porträt von Vladimir Borovikovsky, 1812, Tretjakow-Galerie, Moskau.Quelle: Wikipedia
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Bereits Mitte November hatte Voigt an Goethe geschrieben, er möge zur Begrüßung zugegen sein, weil der Besuch Madame de Staëls vor allem Goethe galt, mit dem sie bekannt gemacht werden wollte.
Daraufhin schrieb mir Goethe, ich möge ihn vertreten und entschuldigen, weil er sich in einer schlechten körperlichen Verfassung befände und mit der Darstellung der Weimarer Kunstausstellung in der neuen Jenaer Zeitung beschäftigt sei. Nur auf Drängen des Herzogs kehrte Goethe am 24. Dezember von Jena nach Weimar zurück und empfing dort in seinem Hause am selben Abend den berühmten Gast, bestand aber auch bei den folgenden regelmäßigen Teerunden und Soupers auf meiner Anwesenheit.
Um Goethe zu vertreten hatte ich mich von meiner Arbeit losreißen müssen und war von dem Wechsel zwischen produktiver Zurückgezogenheit und Gesellschaftstrubel derart ermüdet, dass ich gar nicht mehr zum Schreiben kam. Madame de Staël wirkte aufgrund ihrer besonderen Fertigkeit der Zunge besonders anstrengend auf mich, denn man musste sich schon in ein Ohr verwandeln, um ihr folgen zu können. Meinem Ideal weiblicher Zurückhaltung entsprach Madame de Staël jedenfalls nicht.
Meine Schwägerin Karoline war längere Zeit in Dresden gewesen und wurde von uns Anfang Dezember zurückerwartet; sie kam jedoch erst am 20. Februar 1804 nach Weimar zurück. Deshalb versuchte sie Lotte nun so gut es ging zu vertreten, und wir waren sehr ungehalten darüber, dass Karoline uns mit dem anstrengenden Besuch alleine ließ.
Das Zusammensein mit Madame de Staël hatte etwas Unangenehmes und Belästigendes, denn sie versuchte mit aufgeregt leidenschaftlichem Wesen in ihrem Sinne auf andere einzuwirken und war meiner ruhigen, deutschen Mentalität eher gegensätzlich. Noch dazu fand ich die französische Konversation mit ihr mehr als anstrengend und sah sie trotz ihrer außergewöhnlich hohen Bildung, als ein Wesen aus einer ganz anderen Welt. An Geist konnten ihr nur wenige Männer gleich kommen, und sie besaß einen seltenen Ernst und eine Geistestiefe, die sonst nur aus der Einsamkeit heraus erwachsen kann. In einer kleinen Gesellschaft deklamierte sie einige Stellen der „Phèdre“ von Racine und war hinterher betrübt, weil der Beifall nur mäßig ausfiel.
Meine Arbeit ging nicht voran, und die ständige Präsenz bei Hofe in den Fängen Madame de Staëls zehrte an meinen Kräften und machte mich ungeduldig. Hinzu kam die dunkle Jahreszeit und mit ihr die Erinnerung an die vielen Todesfälle, die wir in den letzten Jahren zu beklagen hatten.
Auch das neue Jahr 1804 begann mit einer Todesnachricht, denn der Herzog von Meiningen war verstorben, den ich seit meiner Zeit in Bauerbach kannte. Ich war sehr betroffen und hoffte für mich persönlich, noch erleben zu dürfen, wie meine Kinder später in der Welt auf eigenen Füßen stehen würden.
Mitte Februar 1804 konnte ich Goethe den ersten Akt des
Wilhelm Tell vorlegen. Dass er die Einleitung des Stückes zufriedenstellend fand, tröstete mich ein wenig. Goethe hatte sich schon mehrere Wochen zurückgezogen, und ich verlangte immer stärker nach seiner Gegenwart.
Ich schrieb an den Direktor der Singakademie und Komponisten Karl Friedrich Zelter nach Berlin, er möge mir zu meinen
Wilhelm Tell passende Musikstücke komponieren und klagte ihm gleichzeitig die Trostlosigkeit meiner hiesigen Situation und den Mangel eines jeglichen Kunstgenusses. Längst schon war mein Entschluss gefasst, diese unbefriedigenden Verhältnisse wenigstens eine Zeit lang zu verlassen und Iffland in Berlin zu besuchen, um das dortige Theater kennen zu lernen, und die Aufführung meines neuen Stückes leibhaftig mitzuerleben.
Madame de Staël hatte verlauten lassen, dass sie noch weitere drei Wochen zu bleiben gedachte. Sicherlich hatte sie noch nicht gemerkt, dass die Weimarer ein die Veränderung liebendes Völkchen waren. So sehr sie auch den französischen Besuch geschätzt hatten, bedurften sie nun eines Wechsels, doch anscheinend wusste Madame de Staël nicht, wann der rechte Zeitpunkt war, zu gehen.
Sie nahm mir jedenfalls die Luft zum Atmen, und als die Belastung zu groß wurde, überfielen mich meine alten rheumatischen Beschwerden und hinderten mich am Gehen. Sie fesselten mich durch eine schmerzhafte Bewegungsunfähigkeit an mein Sofa, und ich musste das Diner bei Madame de Staël und das Konzert am Abend absagen.
Leider konnte ich mich trotzdem nicht meiner Arbeit widmen, denn es kamen zu dem anderen Übel noch furchtbare Kopfschmerzen hinzu, die mich unfähig machten, geistig zu arbeiten.
Madame de Staël verließ Weimar am 29. Februar, um nach Berlin zu reisen, mit den letzten noch fehlenden Teilen meines
Tells für Iffland im Gepäck, und mir war, als hätte ich endlich eine ernste Krankheit überstanden. Ich hoffte, dass sie den Sommer in Berlin verbringen würde, doch sie kehrte bereits Ende April in Begleitung Wilhelm Schlegels nach Weimar zurück, weil sie eine Nachricht von der schweren Erkrankung ihres Vaters erhalten hatte, der jedoch am 10. April 1804 verstarb.
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