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 Flucht nach Mannheim
siegel

Bereitschaftserklärung der Eltern Schillers für die Militär-Akademie. Quelle: Piana, Volksverlag Weimar.
 

Lange hatte ich mit mir gerungen. Aber welch’ andere Lösung blieb mir noch? Ich fühlte mich in eine Ecke getrieben, aus der ich nur schwerlich entkommen konnte. Meine Gedanken kreisten. Einmal um die Flucht, das andere Mal um meine Eltern und Geschwister. Was würde danach mit ihnen geschehen?

Schließlich hatten meine Eltern dem Fürsten vor meiner Aufnahme in die Hohe Karlsschule schriftlich zusichern müssen, dass meine Schaffenskraft Zeit meines Lebens ausschließlich dem Lande Württemberg zugute kommen sollte.

Ich wusste, dass ich das Herrschaftsgebiet des Herzogs nicht ohne dessen Erlaubnis verlassen durfte. Ich kannte dessen Willkür nur zu gut. Deshalb fürchtete ich für meine Eltern Repressalien. Möglicherweise würde der Herzog diese aus purer Rachlust über sie verhängen, obwohl sie nichts von meinen Plänen wussten. Wenn ich fort ginge, könnte ich vielleicht meine geliebte Mutter niemals wiedersehen; auch nicht die Schwestern, denen ich so sehr verbunden war. 

Traurigkeit überfiel mich. Wenn ich das Schwabenland verlassen würde, wäre ich dann noch der Sohn, auf den meine Eltern voller Stolz blicken konnten? Musste ich deshalb, aus Rücksicht auf sie, meine eigenen Wünsche zurückzustellen?
 

Revers von Schillers Vater für den Sohn bei dessen Eintritt in die Akademie.

Nachdeme es seiner regierenden Herzoglichen Durchl. zu Wrg. gnädigst gefällig gewesen, den Sohn

Johann Christoph Friedrich Schiller

in die herz. Mlt.-Acad. zu unserer unterthänigsten Danksagung in Gnaden aufzunehmen, nach den Grundgesetzen dieses herz. Instituts aber erforderlich wird, daß ein dahin eintretender Elev sich gänzlich den Diensten des herz. Wrgschen Hauses widme, und ohne darüber zu erhaltende gnädigste Erlaubnuß aus demselben zu treten nicht befugt seyn, auch hierüber von beiderseitigen Aeltern ein Revers ausgestellt werde, so haben wir uns dessen um so weniger entbrechen wollen, vielmehr versprechen wir, daß obbenannter dieser Sohn dieser Einrichtung sowohl als allen übrigen Gesetzen und Anordnungen des Instituts auf das genaueste nachzuleben geflissen seyn wird.

Urkundlich unter unsern eigenhändigen Unterschriften und vorgedruckten angeborenen Pettschaften,

Gegeben Ludwigsburg, den 23. Sept. 1774. Vater Johann Caspar Schiller, Hauptmann bei dem Herzogl. General-Lieutenant v. Steinschen Infanterie-Regiment. Mutter Elisabetha Dorothea, geborene Kodweißin.
 



Viele Jahre hatte ich bereits für Vaters Ansehen und dessen berufliches Weiterkommen geopfert, und mein Opfer war groß und qualvoll gewesen. Nun musste ich endlich etwas für mich tun. Meine Seele schrie danach. Ich hatte meinen eigenen Weg zu gehen!
 
So benötigte ich weitere vier Wochen bis ich mir eine endgültige Entscheidung abgerungen hatte. Damals ahnte ich jedoch nicht, dass mir noch sechs weitere Jahre voller Unsicherheit, Not und Enttäuschung bevorstehen würden. andreas_streicher      

Andreas Streicher. Büste von Franz Stein. Quelle: Könnecke 1905
 



Es war mittlerweile September und hochherrschaftlicher Besuch hatte sich im Fürstenhaus angesagt. Großfürst Paul von Russland mit seiner Gemahlin, einer Nichte Karl Eugens, war mit großem Gefolge zum Staatsbesuch eingetroffen. Zur Vorbereitung der großen Empfänge herrschte überall hektisches Treiben.
 
Der Herzog hatte bombastische Feste geplant, mit Adligen aus allen Himmelsrichtungen. Er lud ein, zu Opern und Ballett; zahlreiche Bälle sollten folgen und die Festlichkeiten schließlich mit einer Hofjagd am Bärensee enden.
 
Die Stadt Stuttgart wäre, angezogen vom prunkvollen Geschehen, so gut wie ausgestorben. Jeder, der gesunde Beine zum Gehen hatte, würde zum Schloss eilen, um diesem Ereignis beizuwohnen. – Die ideale Gelegenheit, die Stadt ebenfalls zu verlassen, jedoch in die entgegengesetzte Richtung.
 
Die Vorbereitung zur Flucht konnte ich nicht selbst treffen, da ich nicht noch einmal auffallen durfte. Ein mir freundschaftlich gesonnener Bewunderer, der Musiker Johann Andreas Streicher, stand an, mich zu begleiten und hatte alles Nötige zur Flucht arrangiert. Er holte nach und nach meine Zivilkleidung und meine geliebten Bücher, die ich nicht in Stuttgart zurücklassen wollte.
 
Streicher war zwei Jahre jünger als ich und ein ergebener Verehrer. In täglichen Treffen sprach ich mit ihm über meine Fluchtgedanken und erklärte ihm meine Gründe dafür. Mein Herz schüttete ich vor ihm aus, und er erwies sich als geduldiger Zuhörer und Freund. Da er selbst in einem Waisenhaus aufgewachsen war, hatte er großes Verständnis für meinen Freiheitswunsch. Er selbst war von einer höheren Bildung ausgeschlossen, besaß aber einen hohen Grad an Musikalität und Talent. Ich hatte ihn über die Musikzöglinge und Hofmusiker der Karlsschule kennen gelernt.                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                            Streicher überraschte mich schließlich mit seinem Angebot, mich auf meiner Reise begleiten zu wollen. Eigentlich hatte er für das nächste Frühjahr eine Reise nach Hamburg geplant. Diese wollte er mir zuliebe schon jetzt über Mannheim antreten, um in Hamburg bei Carl Philipp Emanuel Bach Unterricht zu nehmen.

Zwischenzeitlich hatte ich meine Schwester Christophine in meine Pläne eingeweiht. Nun galt es, meiner Mutter und den Schwestern Adieu zu sagen.
 
Mittlerweile waren die festlichen Vorbereitungen in vollem Gange und zunehmend mehr Gäste trafen in Stuttgart ein. Unter ihnen auch Intendant Dalberg und die Gattin des Regisseurs Meyer, da diese in Stuttgart gebürtig war. So machte ich beiden meine Aufwartung, was zur Folge hatte, dass ich nun des Öfteren in Gesellschaft von Frau Meyer war. So schwer es mir auch fiel, ich durfte mein Geheimnis nicht verraten. Die ganze Sache hätte daran scheitern können.
 
Ein letztes Mal wollte ich meinen Eltern einen Besuch abstatten, und ich machte mich mit Streicher und Frau Meyer zu Fuß auf den Weg zum Haus meiner Eltern. Wir führten Gespräche über das Mannheimer Theater und genossen die herrliche Gegend und das schöne Wetter. Meine Mutter empfing uns aufs Herzlichste, war aber tief ergriffen, da sie bereits von meinen Absichten, Stuttgart zu verlassen, erfahren hatte.
 
Meinen Vater hatte ich nicht aufklären wollen, da er sonst gegenüber dem Herzog zur Lüge genötigt gewesen wäre. Ganz unbefangen berichtete mein Vater über die geplanten Festlichkeiten. Ich wartete eine Weile und entfernte mich dann mit meiner Mutter von der Gesellschaft, um Abschied zu nehmen. Wir lagen uns weinend in den Armen, und als ich nach einer Stunde zurückkam, fiel es mir schwer, meine feuchten, geröteten Augen zu verbergen. Erst auf dem Rückweg nach Stuttgart rissen mich die Gespräche aus meinen traurigen Gedanken, und ich wurde wieder zuversichtlicher.
 
Es war der Abend vor unserer Abreise, an dem ich Scharffenstein ein letztes Mal traf, um Lebewohl zu sagen. Wir schwelgten in Anekdoten unserer Schulzeit und umarmten uns schließlich mit Tränen in den Augen für lange Zeit zum letzten Mal, als ich mich an der Türe der Wache von ihm verabschiedete.

Esslingertor    

 Eßlinger Tor. Quelle: Quelle: Theo Piana. Volksverlag Weimar
 

                                                                                                          

Am 22. September 1782 war es endlich soweit. Um 10 Uhr vormittags klopfte es eindringlich an der Türe, und Streicher stand davor, um mich abzuholen. Ich war etwas durcheinander, hatte ich doch angefangen, in den „Oden“ von Klopstock zu lesen und ein Gegenstück zu dichten, was ich Streicher nicht vorenthalten wollte. Dieser drängte jedoch kopfschüttelnd zur Eile und konnte mein Verhalten überhaupt nicht begreifen. Meine Gelassenheit erregte ihn aufs Äußerste, und so fragte er mich mehrmals, ob ich auch nichts vergessen habe.
 
Ich versuchte mich auf meine bevorstehende Flucht zu konzentrieren, aber erst am Nachmittag hatte ich alles in Ordnung gebracht und traf gegen 9 Uhr abends bei Streicher ein, zu seinem Schrecken und Erstaunen, mit zwei alten, rostigen Pistolen unter dem Mantel. Beide Waffen funktionierten nicht mehr. Ich versuchte Streicher zu beruhigen, und erklärte ihm, dass ich sie nur zur Abschreckung mitgenommen hatte. Mit zwei Koffern beladen, mit Streichers kleinem Klavier im Gepäck und etwa 50 Gulden in der Tasche, passierten wir mit der Kutsche die Schildwache des Stadttores. Dort angekommen und nach unserem Namen und Weg gefragt, verwandelte Streicher diese in: Doktor Ritter und Doktor Wolf, beide nach Eßlingen reisend. Scharffenstein war eingeweiht und gab die Passage durch das Eßlinger Tor frei.
 
Uns war nicht gerade wohl im Leib, aber als wir die erste Anhöhe überwunden hatten, schien die schwerste Hürde genommen.
 
Gegen Mitternacht strahlte zu unserer Linken der Himmel hochrot, und als wir nach anderthalb Stunden Fahrt Solitude passierten, glänzte uns das auf dem Berge liegende Schloss wie im Feuerschein entgegen. Ich wies Streicher auf den Punkt hin, wo meine Eltern wohnten und tat einen tiefen Seufzer, als ich an meine Mutter dachte. Wie schwer war mir in diesem Moment ums Herz!
 
Des Nachts um zwei Uhr machten wir Station in Enzweihingen. Während der Zeit unseres Aufenthaltes trug ich Streicher unter anderem das Gedicht „Die Fürstengruft“ vor, welches ich in einem Heft mit Ungedrucktem aufbewahrte. Dieses hatte ich von dem unglücklichen Schubart erhalten, da er es einst mit einer Beinkleiderschnalle in die nasse Wand seines Kerkers geritzt hatte, weil er jahrelang weder Papier noch Feder benutzen durfte.
 
Als wir gegen acht Uhr morgens endlich den württembergischen Boden verließen und den kurfürstlichen betraten, schien die Anspannung der Flucht zu weichen, und ich gelobte aufs Heiligste, mich nie wieder einem solchen Zwange zu unterwerfen.
 
Der freundliche Geist der neuen Regierung, der ich ab sofort unterstand, schien sich in meinen Augen bereits in der Farbe der blau-weiss gestrichenen Grenzpfähle und Schranken auszudrücken. Dies versuchte ich auch Streicher klar zu machen, der mich sogleich in ein politisches Gespräch verwickelte, was uns die Zeit der Weiterfahrt verkürzte.
 
In Bretten schließlich, schickten wir den Stuttgarter Kutscher zurück, und nach dem Mittagessen fuhren wir weiter Richtung Mannheim, mussten jedoch unterwegs ein Nachtquartier aufsuchen, weil man die Tore der Stadt nicht nach Einbruch der Dunkelheit passieren durfte.

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Theaterregisseur Meyer und seine Frau. Quelle: Könnecke 1905
 

                                                                             
Am nächsten Morgen brachen wir schon früh auf und betraten, in unsere besten Kleidungsstücke gehüllt, Mannheimer Boden. War mein Geldbeutel auch schmal, so waren meine Visionen, die ich mit meinem fast fertigen neuen Drama verband, umso größer. Reichlichen Gewinn vor meinem geistigen Auge, würde ich gewiss von der hiesigen Theaterdirektion mit offenen Armen empfangen werden, und auch der Buchhandel würde mir sicherlich das nötige Geld zum Leben einbringen.
 
Der Schauspieler und Theaterregisseur Meyer war erstaunt und entsetzt zugleich, mich als Flüchtling in Mannheim zu sehen, weil er doch dachte, ich würde seiner Frau in Stuttgart bei den Feierlichkeiten Gesellschaft leisten. Sogleich mietete er uns in der Nachbarschaft eine Wohnung, lud uns zum Mittagessen ein und überzeugte mich schließlich in langen Gesprächen, dass es doch besser sei, den Herzog in einem Brief um Verzeihung zu bitten. Ihm war offensichtlich nicht wohl bei dem Gedanken, einem Deserteur Unterschlupf zu gewähren, der nun vom Herzog Karl Eugen unter Strafe gesucht wurde. Noch größer wurde sein Unbehagen, als er darüber nachdachte, dass im Moment der Intendant des Theaters, Dalberg, Gast des Herzogs war. Erst jetzt kam ich zur Besinnung und wurde mir langsam der gefährlichen Folge meines Tuns bewusst. Nicht nur meine Familie hatte ich aufgrund meines Leichtsinns in Gefahr gebracht, auch die Personen, die weiterhin mit mir verkehrten. Diese Auswirkungen hatte ich nicht genügend bedacht.
 
Also schrieb ich sogleich ein Gnadengesuch an den Herzog, legte ihm meine Beweggründe dar, und hoffte, dass er mir die Rückwege nach Stuttgart straffrei öffnen würde. An meine bereitwillige Rückkehr waren jedoch Bedingungen geknüpft: Den Feldschererrock wollte ich nicht mehr tragen, wichtig war mir der Wunsch, in Freiheit schreiben zu dürfen, und auch die Bitte um ein höheres Einkommen fehlte nicht.

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„Hubertushaus“ - Schillers Wohnung in Mannheim. Quelle: Theo Piana. Friedrich Schiller. Volksverlag Weimar.
 



Als ich den von mir verfassten unterwürfigen Brief las, ekelte ich mich vor mir selber. Wie erniedrigt musste ich nun wieder vor diesem verhassten Menschen knien?! Gleichzeitig hatte ich sein mit Genugtuung gezeichnetes Gesicht vor Augen, nachdem er mein Bittgesuch gelesen hatte. Doch die einzige Hoffnung, die blieb, war die Vergebung des Fürsten. Gerade erst schien ich von seinen Fesseln befreit zu sein, doch fühlte ich schon wieder die Macht, die er über mich hatte. Es wurde mir immer klarer in welcher Bredouille ich mich befand. Ich hatte neben meinem Titel als Wundarzt keine andere Möglichkeit des Broterwerbs, als das Schreiben. Außerhalb des Militärs war mir das normale Praktizieren als Arzt nicht erlaubt.
 
Der allzu guten Stimmung des Herzogs und der Anwesenheit seiner Verwandten hatte ich es schließlich zu verdanken, dass nach zwei langen Tagen des Wartens und Hoffens eine Nachricht General Augés eintraf, die besagte, dass ich nur zurückkommen möge. Kein Wort von der Erhörung meiner Bitten, nicht einmal eine Erwähnung derselben. Wäre ich unter diesen Umständen zurückgekehrt, hätte ich mich der Lächerlichkeit preisgegeben.
 
Mittlerweile war Frau Meyer aus Stuttgart zurückgekehrt und brachte die Nachricht mit, dass man allgemein vermutete, es würden schon Maßnahmen zur Auslieferung getroffen. Zur Beruhigung aller beteuerte ich, dass ich weniger Militärperson, sondern vielmehr Privatperson gewesen sei, und meine Flucht deshalb keine unerlaubte Entfernung von der Truppe darstellen könne. Herr und Frau Meyer waren besorgt, und man riet mir, mich nur in meiner Wohnung und in deren Hause aufzuhalten.
 
Es wurde eine Vorlesung des Fieskos vorbereitet. Die Schauspieler Iffland, Beil, Beck und andere hatten sich nachmittags eingefunden und lauschten erwartungsvoll meiner Einleitung. Da mein Freund Streicher die Geschichte bereits ausführlich kannte, achtete er weniger auf meinen Vortrag, sondern beobachtete aufmerksam die Resonanz bei meinen Zuhörern, die jedoch völlig empfindungslos, ohne erkennbare Begeisterung lauschten. Streicher erwartete löblichen Beifall, sah aber nur in gelangweilte Gesichter.
Der erste Akt war vorgelesen, und ein Zuhörer, nämlich Beil, stand auf und entfernte sich. Die noch Verbliebenen unterhielten sich keineswegs über das Stück, sondern über Stadtneuigkeiten. Der zweite Akt wurde noch mit stiller Beachtung zur Kenntnis genommen, doch als danach Getränke gereicht und ein Bolzenschießen vorgeschlagen wurde, entfernten sich auch die letzten Gäste, bis auf Iffland, der bis zum Abend blieb.


Herr Meyer bemühte sich so gut es ging die Contenance zu wahren, und Streicher wusste vor lauter Peinlichkeit keine Worte zu finden. Im Nebenzimmer fragte ihn Meyer dann auch noch zu dessen Erstaunen, ob das Stück Die Räuber wirklich von mir stammte, denn er hätte noch niemals zuvor ein so erbärmliches, schwülstiges und unsinniges Zeug wie den Fiesko gehört. Streicher schien fassungslos, und ich war es ebenfalls. So etwas hatte ich nicht erwartet.
 
Meine Gemütslage hatte sich verändert, und ich war froh, meinem Ärger endlich Luft machen zu können, als wir wieder in unserer Unterkunft angekommen waren. Alles neidische Banausen, die mir meinen Erfolg missgönnen, schimpfte ich.
  fiesko
Streicher versuchte mich zu beruhigen, so gut er konnte und ging am nächsten Morgen in aller Frühe alleine zu Meyer, welcher das Manuskript behalten hatte, um es noch einmal ganz zu lesen. Dieser empfing ihn freudig und teilte ihm mit, dass er seine Meinung noch einmal revidieren müsse. Der Fiesko sei ein Meisterwerk und für die Bühne noch besser bearbeitet als Die Räuber. Einzig und alleine sei es meine Schuld gewesen, dass der Inhalt des Stückes hinter der viel zu großen Betonung gar nicht zur Geltung kommen konnte. Im Gegenteil – mein Vortrag hätte so schwülstig geklungen, dass dies vom Inhalt abgelenkt habe, und meine schwäbische Aussprache hatte die Deklamation nicht besser gemacht.
 
Die Theaterleute wollten das Stück nun selbst einem Gremium vortragen, das danach eine Entscheidung fällen sollte. Meyer wollte nun alles dafür tun, damit es bald auf die Bühne käme.
 
Ohne noch ein Wort zu entgegnen, lief Streicher nun zu unserer Unterkunft zurück, um mich zu wecken und mir die gute Neuigkeit mitzuteilen. Er behielt jedoch die Bemerkungen Meyers, über die schreckliche Art meiner Deklamation, klugerweise für sich.
 
Es schien ein schöner Tag zu werden, und die gute Nachricht hob meine Stimmung enorm. Doch die Post brachte nichts Gutes. Briefe von Freunden aus Stuttgart hatten mich erreicht, die den Rat enthielten, schnellstens Mannheim zu verlassen und die Stadt für einige Wochen zu meiden, weil vielleicht doch meine Auslieferung von der pfälzischen Regierung verlangt werden könnte.
Dalberg war immer noch nicht aus Stuttgart zurückgekehrt. Damals glaubte ich, dass er der einzige Mensch sei, der die günstige Wendung meines Schicksals herbeiführen könnte. Er hatte letztendlich zu entscheiden, ob der Fiesko in Mannheim aufgeführt werden sollte oder nicht.
 
Wieder blieb mir nur die Flucht. Gemeinsam mit Streicher, der mich in meiner Not nicht alleine lassen wollte, entschlossen wir uns, wegen der fehlenden finanziellen Mittel, zu einer Fußreise über Darmstadt nach Frankfurt.
 
Es galt die nächsten Wochen zu überleben, und da ich für mich keine Möglichkeit sah, irgendwelche Gelder zu beschaffen, schrieb Streicher sogleich an seine Mutter und bat diese um 30 Gulden, die sie nach Frankfurt schicken sollte. Es war mir mehr als peinlich, nichts für unseren Lebensunterhalt beisteuern zu können, aber ich konnte auf gar keinen Fall meinen Vater um Hilfe bitten, da meiner Familie lediglich 400 Gulden im Jahr zur Verfügung standen. Ich war einzig und alleine auf die freundschaftliche Hilfe Streichers angewiesen, und das beschämte mich zutiefst.
 
Mit unserem letzten Geld bezahlten wir nach dem Mittagessen die Passage über die Neckarbrücke in Richtung Sandhofen, übernachteten dort und setzen am nächsten Morgen unseren Weg auf der Bergstraße bis nach Darmstadt fort.
Meine Füße schmerzten von dem langen Marsch, und nachdem wir zu Abend gegessen hatten, schliefen wir in unserem Nachtquartier sofort ein. Als wir gegen Mitternacht plötzlich durch militärische Trommeln geweckt wurden, die draußen auf der Straße ertönten, durchfuhr mich eine fürchterliche Angst und raubte mir den Schlaf für die restliche Nacht. Ich wälzte mich unruhig in heftigsten Phantasien, und am Morgen war ich wie gerädert. Mein Kopf schmerzte, und ich spürte beim Aufstehen das Ziehen in meinen Füßen und Beinen noch stärker als gestern.
 
Ungeachtet dessen bestand ich darauf, die sechs Stunden lange Strecke nach Frankfurt am selben Tag zurückzulegen.
 
Wir liefen langsamer als am Vortag, mit häufiger Rast, weil uns beide die Müdigkeit plagte. Mir ging es nicht gut, und der Weg schien endlos zu sein. So schleppte ich mich, einen Schritt vor den anderen setzend, bis zur völligen Erschöpfung. Die Farbe war aus meinem Gesicht gewichen, und der kalte Schweiß stand mir auf der Stirn. Ich zeigte drüben auf ein Wäldchen, an dem ich Rast machen wollte und erklärte Streicher, dass ich nicht mehr weiter könne und ein paar Stunden Ruhe brauchen würde, um zu Kräften zu kommen. So legte ich mich unter einen schattigen Strauch ins Gras und schlief auch sofort ein. Streicher beobachtete mich besorgt. Da lag ich nun ohne Kraft und Hoffnung, völlig hilflos, mutterseelenalleine, heimat- und mittellos. Meine Augen ruhten tief in ihren Höhlen, und meine unruhigen Gesichtszüge verrieten meinen angespannten Seelenzustand.
 
Die Gegend war recht einsam, in der wir uns befanden, denn obwohl in nächster Nähe ein Fußweg entlang führte, wurde dieser in zwei Stunden von niemandem betreten. Erst als ich von einem vorbeilaufenden Werbeoffizier geweckt wurde, merkte ich wieder, wo ich war. Die Farbe in meinem Gesicht war zurückgekehrt, und wir setzten unseren Weg zwar langsam, aber stetig fort und passierten in der Dämmerstunde die Stadtgrenzen Frankfurts. Stieler_Flucht_Schiller_Streicher@Schillerhaus_Weimar

Schillers Flucht. Josef Karl Stieler. Quelle: Wikipedia
 



Aufgrund unserer Geldknappheit nahmen wir Quartier in Sachsenhausen und handelten sogleich mit dem Wirt den täglichen Betrag für Zimmer und Kost im Voraus aus. „Wenn doch nur Streichers Mutter schnell das Geld schickt!“, dachte ich besorgt.
 
Aber da gab es noch eine andere große Last in mir, die mich sehr bedrückte. Eine Bekannte hatte seinerzeit in Stuttgart für meine Schuld gebürgt. Da ich jedoch die 200 Gulden nicht zurückzahlen konnte, befand sich diese in großer Gefahr, verhaftet zu werden. Ein Vorschuss Dalbergs blieb meine einzige Hoffnung. Es lag auf meiner Brust wie Blei, dass ich wieder einen Bittbrief an ihn richten musste. Aber es war unumgänglich, und ich schrieb ihm von meiner prekären Situation, der Flucht, dem Geldmangel – einfach alles.
 
Ich breitete meine völlige Hoffnungslosigkeit vor ihm aus, erklärte ihm meine geplatzten Mannheimer Theaterträume, meine Enttäuschung darüber und den plötzlich notwendig gewordenen Aufbruch. Auch von der Bürgschaft berichtete ich, und, dass dies momentan meine größte Sorge sei. Denn ehe diese Schuld nicht bereinigt wäre, hätte ich keine Ruhe mehr. Auch schrieb ich Dalberg, dass mir meine peinlichen Geständnisse sehr schwer fallen würden, er aber daran sehen könne, wie gespannt meine Lage sei.
 
Ich bat um Unterstützung und teilte ihm mit, dass meine Kasse in einer Woche völlig leer sei, und ich unter der gegebenen Last der Umstände auch nicht in der Lage sein würde, geistig arbeiten zu können. Dennoch versprach ich ihm, den Fiesko in drei Wochen theatertauglich umzuschreiben und an ihn zu liefern. Ein entsprechendes Honorar und einen angemessenen Vorschuss stellte ich mir vor, um die offene Schuld tilgen zu können.
 
Meine Gemütslage besserte sich ein wenig, nachdem ich diesen Brief voller Hoffnung an Meyer geschickt und ihn um Weiterleitung an Dalberg gebeten hatte. Zwar immer noch niedergeschlagen, doch voller Zuversicht, begann ich meine Umwelt wieder wahrzunehmen. So bemerkte ich auf dem Wege zur Post in Frankfurt zum ersten Male das kaufmännische Treiben und die vielen damit beschäftigten Menschen. Auf dem Rückweg in unsere Pension verweilte ich längere Zeit auf der Mainbrücke und beobachtete die am Ufer des graugelben Stromes löschenden Schiffe und deren Fahrt über das Wasser.
 
Eigentlich waren meine Gedanken immer rege und mit irgendwelchen Überlegungen beschäftigt. So teilte ich Streicher während unseres gemeinsamen Fußweges mit, dass mir seit der Arretierung ein neues Drama im Kopfe herumging. Mein Begleiter hörte interessiert meinen Ausführungen zu. Ein bürgerliches Trauerspiel war die Idee und Luise Millerin sollte es heißen.
Ein neuer Plan war geboren, und ich beschäftigte mich in den folgenden vierzehn Tagen damit, ihn aufs Papier zu bannen.
 
An den Nachmittagen und besonders an den Abenden zog ich mich von der Außenwelt zurück, um, in meinem Zimmer auf- und abgehend, die Dinge niederzuschreiben, die mir in den Sinn kamen.
 
Schweigend, mit ausdrucksvoller Miene und lebhaftem Gebärdenspiel offenbarte ich Streicher, das etwas Neues und Großes in mir Gestalt annahm. Meine Seele und mein Geist schwebten in diesen Momenten in anderen Sphären, und mein Gefährte blieb ganz still im Hintergrund, aus Angst meinen Gedankenfluss zu stören. Er war ein treuer erster Zuhörer, der an meinen Lippen hing, wenn ich ihm neue Zeilen vorlas. Wie ein Geschenk des Himmels, der mir in dieser Zeit einen Engel an die Seite stellte.
 
Nach einigen Tagen fiel uns beim Durchstreifen Frankfurts ein Buchladen auf, in dem ich mich als Doktor Ritter vorgestellt und nach dem Absatz des Dramas Die Räuber erkundigt hatte. Die Antwort des Buchhändlers und seine Beurteilung fielen so positiv aus, dass ich mich als Autor zu erkennen gab, was dieser jedoch offensichtlich nicht so richtig glauben wollte.
 
Viele vergebliche Wege zur Post lagen hinter uns, als mir endlich das lang ersehnte Paket überreicht wurde. Es enthielt Briefe aus Stuttgart von meinen Freunden, die mir zur strengsten Geheimhaltung meines Aufenthaltsortes rieten. Aber mein ganzes Augenmerk richtete sich auf das beiliegende Schreiben Meyers, denn ich versprach mir hiervon das Beste.
 
Ich verschlang die Worte des Briefes, und mir war, als hätte ich die Büchse der Pandora geöffnet. Die bittere Enttäuschung zeichnete mein Gesicht, als ich schweigend aus dem Fenster auf den Main blickte. Mein Unglück wollte nicht weichen, im Gegenteil!
 
Dalberg ließ über Meyer mitteilen, dass er keinen Vorschuss zahlen wolle, solange er das umgeschriebene Exemplar des Fiesko nicht gelesen und für gut befunden hätte. Seltsamerweise verstand ich seinen Standpunkt und war überhaupt nicht wütend auf Dalberg. Er hatte mich auf den Boden der Tatsachen zurückgeholt. So machte ich mich ohne Umschweife an die Umarbeitung, um das Stück theaterfähig zu machen. Nur so konnte ich Dalberg umstimmen. Und falls nicht, wollte ich es wenigstens einem Buchhändler zum Kauf anbieten. Das würde mich fürs Erste über Wasser halten. Ich fasste den Entschluss, mich wieder nach Mannheim in die Nähe hilfreicher, freundschaftlich gestimmter Menschen zu begeben und den Fiesko dort zu beenden.
 
Streichers Mutter hatte bisher kein Geld geschickt, und unsere Barschaft näherte sich dem Ende. Ich hatte noch ein Gedicht geschrieben, welches ich dem Buchhändler für 25 Gulden zum Kauf angeboten hatte. Der ließ jedoch nicht mit sich handeln und wollte sein Gebot von 18 Gulden nicht überschreiten. Doch lieber wollte ich hungern, als mich klein machen zu lassen. Also kehrte ich erfolglos und ohne Geld in unser Quartier zurück.
Endlich, nach tagelangem Anschreiben in unserer Pension, kam die erlösende Geldsendung von Streichers Mutter. Nun konnten wir Frankfurt verlassen und fuhren mit dem Marktschiff in Richtung Mainz, besichtigten dort den Dom und setzten am folgenden Tag unseren Weg weiter zu Fuß fort.
 
Mit Station und Weinprobe in Nierstein legten wir die weitere Strecke nach Worms ohne größere Pause, in drei Stunden Fußmarsch, und zuletzt, als die Kräfte schwanden, mit der Postkutsche zurück. Ich war sehr still und in Gedanken versunken. Meyer hatte in seinem Brief ein Treffen vorgeschlagen, das in Oggersheim in einem Wirtshaus „Zum Viehhof“ stattfinden sollte. Dort trafen wir am nächsten Tag zur verabredeten Stunde ein.
 oggersheim

Das Ehepaar Meyer erwartete uns bereits. Sie hatten noch zwei weitere Bewunderer meiner Werke mitgebracht. Meyer versuchte, beruhigend auf mich einzureden. Dalberg würde gewiss seine Meinung noch ändern und das Stück aufführen lassen, wenn einige Szenen gekürzt und der Schluss geändert worden wäre.
 
Auch Frau Meyer sprach mir Mut zu, und ihre Begleitung klang ebenfalls sehr zuversichtlich. Ich schöpfte wieder Hoffnung, obwohl mich die Tatsache, dass ich den fünften Akt ändern sollte, nicht gerade zufriedener machte.
 
Hier in Oggersheim im Wirtshause untergebracht, sollte ich in Ruhe mein Werk umarbeiten. Zur weiteren Vorsicht tauschten wir den Namen Doktor Ritter gegen Doktor Schmidt. Frau Meyer baten wir, unsere Koffer und Streichers Klavier vom nahen Mannheim herüber zu schicken. Wegen unserer Geldknappheit und des zuvor ausgehandelten Preises für Kost und Logis, mussten wir uns nun ein Zimmer und ein Bett teilen. Unter den gegebenen Umständen konnte das von Streichers Mutter geschickte Geld nicht länger als höchstens zwei Wochen reichen. Doch wie lange ich für die lästige Umarbeitung des Fiesko benötigen würde, wusste nur der Himmel.
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Wirtshaus “Zum Viehhof” in Oggersheim
 


                                                                                                
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