Die Zeit machte auch vor der fürstlichen Lebenseinstellung nicht halt, denn was zuvor der Befriedigung seiner nimmersatten Leidenschaften diente, also Sinneslust, Künste, Prunk und Luxus, wich der Idee, aus dem einstigen Lustschloss eine höhere Erziehungs- und Bildungsanstalt zu machen.
Dieser Sinneswandel kam nicht von ungefähr, denn, wo der Herzog in punkto Frauen zuvor die Abwechslung liebte, wandte er sich jetzt einer einzigen Auserkorenen zu, nämlich der bereits geschiedenen Freifrau Franziska Leutrum von Ertingen, die er schnell zur Reichsgräfin von Hohenheim und später zu seiner rechtskräftigen Gemahlin erhob.
So befahl der Herzog die Söhne armer Offiziersfamilien, welche zuvor bei den Landesexamen mit besonders guten Leistungen aufgefallen waren, zwecks Rekrutierung in seine militärische Pflanzschule, um diese dort zu Gärtnern und Künstlern auszubilden.
Da das Geheiß des Fürsten als Gnade angesehen werden musste, der sich mein Vater aufgrund seiner Stellung nicht ohne Repressalien entziehen konnte, willigte ich ein, jedoch mit der Wahl eines anderen Studienfaches.
So hatte ich mich für die Jurisprudenz entschieden, wenn dies auch nicht meinen wahren Interessen entsprach.
Alle Familienmitglieder waren schockiert, und nur mein Vater schien insgeheim zu ahnen, was mich erwartete. Gerade 13-jährig wurde ich dort im Januar 1773, wie befohlen, zum Studium der Jurisprudenz `abgeliefert’.
Die Kasernierung nahm ihren Lauf. Die Zöglinge des Institutes wurden streng nach ihren Ständen getrennt. Sie blieben auch privat unter sich und unterhielten keinerlei Verbindung untereinander.
An oberster Rangordnung standen die Söhne der Adligen, genannt „die Kavaliere“, die auch besondere Zuwendungen und Privilegien genossen. „Die Bürgerlichen“ unterteilte man in Offiziers- und Beamtensöhne; die Künstler, „Artisten“ genannt, aus Handwerker- oder Soldatenfamilien stammend, bildeten die unterste Klasse.
Ich wurde in eine Schuluniform gesteckt, die mich lächerlich aussehen ließ, weil aufgrund meiner übergroßen Gestalt, Arm- und Beinlänge zu kurz waren. Drill, Schläge und Essensentzug waren an der Tagesordnung. In großen Schlafsälen wurden wir untergebracht und im Sommer um fünf Uhr, im Winter um sechs Uhr geweckt. Danach folgte ein immer gleich ablaufendes Tageszeremoniell, bei dem jeder Schritt im Kommandoton exerziert werden musste.
Betten machen, Toilette, Antreten zum Frühappell, danach in Zweiergruppen zum Frühstück, welches täglich aus Brot und Mehlsuppe bestand, Hände falten zum Gebet, das Hervorziehen der Stühle, das anschließende Hinsetzen und wieder Aufstehen, der Abmarsch. Von sieben bis elf Uhr war Unterricht, Säuberung, Umziehen zum Mittagessen; nach dem Essen bewachter Spaziergang. Erneut Unterricht von vierzehn bis achtzehn Uhr, anschließend nochmalige Säuberung, danach Selbststudium, Abendessen und sofortiges Zubettgehen.
Es war mir nicht gestattet Mutter und Geschwister zu besuchen. Ausnahmen gab es nur nach einem gut begründeten Antrag der Eltern. Nur selten durfte mich meine Mutter des Sonntags besuchen.
Meine Schwestern Beata Friederike und Maria Charlotte habe ich gar nicht erst kennen lernen dürfen, weil sie noch vor meiner Entlassung verstorben waren, und meine jüngste Schwester Karoline Christiane, genannt „Nanette“, die im Jahre 1777 geboren wurde, sah ich erstmals nach dem Verlassen der Akademie. So abrupt aus meinem Elternhaus gerissen zu sein, fern ab von der Mutter- und Geschwisterliebe, war für mich eine schlimme traumatische Erfahrung, die ich mein Leben lang in meinen Werken zu verarbeiten suchte.
Es gab in dieser herzoglichen Lernanstalt weder Ferien noch Freizeit und keine Sekunde ohne Aufsicht und Terror. Sieben lange Jahre musste ich diese Hölle der verlorenen Kindheit durchleben! Mein Leben glich einem lautlosen Schrei, der so verzweifelt war, dass er aus der Tiefe meiner Hölle bis zu Gott dringen musste.
Meine angeschlagene Psyche schwächte meinen Körper. Oft verbrachte ich meine Tage auf der Krankenstation, was ich zum heimlichen Schreiben nutzte.
Die angeborene, schwache körperliche Konstitution machte mich für Krankheiten empfindlicher als andere. Dies ist wohl häufig zutreffend für Personen mit rotblonder Haarfarbe und Sommersprossen, wodurch ich meiner Mutter sehr ähnlich sah. – Wie sehr ich sie damals vermisste!
Rotblond schien auch meine Seele zu sein. Höhenflüge zu fremden Sphären ließen sie wahre Tänze vollziehen, die mir allerdings in der Schule verboten waren. Mein Vater und die Militärakademie gaben hier den Takt vor. Respekt und Gehorsam standen weit vor den eigenen Empfindungen und Wünschen. Den Aufforderungen des Fürsten hatten wir unbedingt und widerstandslos Folge zu leisten. Ihm missfiel von Anfang an meine Haarfarbe, was ihn veranlasste, mir das weiße Abpudern derselben zu befehlen.
15-jährig bat ich den Fürsten um die Erlaubnis, das Amt eines Gottesgelehrten ausüben zu dürfen. Doch mein Mut wurde enttäuscht. Er lehnte natürlich ab, weil er als katholischer Herzog nicht im Geringsten daran dachte, die Gottesmänner einer anderen Fakultät zu mehren.
Ein Traum war ausgeträumt! Hier in der Schule war mir alles genommen, meine Hoffnung und Zuversicht, meine Familie, mein eigener Wille und meine Rechte.
Ich begann im Geiste einen Panzer um mich herum zu bauen, der mich wie eine Schildkröte vor den Angriffen und Launen des Fürsten schützen sollte. Wie oft stand ich vor ihm und fühlte mich so erbärmlich devot, seiner Willkür ausgeliefert, wie ein Schwein auf der Schlachtbank. Mit hängenden Schultern und eingezogenem Kopf - was mir bei meinem langen Hals gar nicht leicht fiel - empfing meine Seele die unauslöschlichsten Lektionen seiner nach außen hin deklarierten Fürsorge.
Ein Drahtseiltanz begann. Vorsichtig, Schritt für Schritt, musste ich einen Fuß vor den anderen setzen, mein fernes Ziel immer vor Augen: die Freiheit!
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