Goethe in Rudolstadt
Johann Wolfgang von Goethe 1787/88. Gemälde von Angelika Kauffmann. Goethe-Nationalmuseum, Weimar.
|
Endlich, am 7. September 1788, verbrachte ich fast den ganzen Tag in Gesellschaft Goethes, als er uns mit der Gattin Herders, der Frau von Stein und deren Schwägerin, Sophie von Schardt und dem Oberstallmeister von Stein im Hause der Lengefelds besuchte.
Der erste Augenblick unseres Kennenlernens stimmte meine zuvor hohe Meinung, die ich von ihm hatte, ziemlich stark herunter, denn da war nichts von der anziehenden und schönen Figur, die mir zuvor beschrieben worden war. Er wirkte viel älter, als er in Wirklichkeit sein konnte. Er war brünett, von mittlerer Größe, wirkte sehr steif und ging auch so, sein Gesicht war verschlossen, doch seine Augen waren sehr ausdrucksvoll und lebendig. Man hing mit Vergnügen an seinem Blick.
Trotz des Ernstes seiner Miene hatte er viel Wohlwollendes und Gutes. Er unterhielt sich geistvoll und belebt und ohne den mindesten Zwang. Wir folgten interessiert seinen leidenschaftlichen Erzählungen von Italien, doch war die Runde zu groß, um in diesen Stunden alleine mit ihm sprechen zu können.
Ich bezweifelte an diesem Abend, dass wir einander je sehr nahe rücken würden, denn in punkto Lebenserfahrung und Selbstentwicklung lagen Welten zwischen uns. Sein ganzes Wesen war schon von Anfang an anders angelegt, als das meinige; seine Welt war nicht die meinige und unsere Vorstellungsarten schienen zu verschieden, um sie je in Einklang bringen zu können. Die Zeit würde das Weitere lehren!
In einigen Tagen wollte er nach Gotha reisen und im Herbst nach Weimar zurückkehren, um dort den Winter zu verbringen.
Weiter